Exhibition:
Sunah Choi
Tokonoma
Galerie Michael Neff, Frankfurt, 2005

Deutsch

Tokonoma

Tokonoma bezeichnet eine Bildnische in einem traditionellen japanischen Haus. Diese Bildnische liegt an der Rückwand eines mit Tatami-Matten ausgelegten Raumes und wird oft von einer Säule aus Holz vom Umraum symbolisch separiert. Das Betreten des Tokonoma ist untersagt. Zur Ausstattung des Tokonoma zählen ein Blumenarrangement (Ikebana) sowie ein Rollbild (Kakemono), die nach Jahreszeit und Atmosphäre ausgetauscht werden. Der vornehmste Gast des Teezeremoniells sitzt als nächster zu diesem minimalistisch dekorierten Alkoven – an der Stelle, an der er „von Schönheit umgeben ist“.

Die Installation von Sunah Choi zeigt die verschiedenen Elemente des Tokonoma, überblendet sie jedoch mit einem modernistischen Referenzsystem, das anti-traditionalistisch argumentiert.

Das Bild des fiktiven Tokonoma beispielsweise re-formuliert die Formensprache des Fotogramms, wie man sie aus dem Werk des Bauhaus-Künstlers Laszlo Moholy-Nagy kennt, passt sie aber auch dem japanischen Ambiente an. Die nach einer Szene aus dem Film Manuskript „Dynamik der Gross-Stadt“ benannte Fotografie „YMOHOLYMOH“ imitiert die Ästhetik der kameralosen Fotografie, verleiht dieser über die Wahl der Farben und Formen jedoch ein spezifisch „asiatisches“ Aussehen. Die Säule aus einem Fichtenstamm wiederum weist rechteckige Einkerbungen auf, die sie in die Nähe des von Mies von der Rohe entwickelten „Doppel-T-Trägers“ stellen, der den Ausgangspunkt moderner Stahlskelettbauweise bildet. Während das von einem Ikebana-Meister entwickelte Blumengesteck in dem Gestell eines Freischwingers von Mies van der Rohe steht, nimmt der Sockel die Maße der traditionellen Tatami-Matte auf. Eine spiegelnde Metallkugel – ein prominentes Experimentierfeld für die Schule des „Neuen Sehens“ der 1920er – wiederum ist an der Wand gefestigt und reflektiert den Raum wie ein Konvexspiegel im Miniaturformat.

Diese Einschreibung modernistischer Ikonen in das traditionelle japanische Formenrepertoire ist keine willkürliche Wahl – Architekten wie Mies van der Rohe und Le Corbusier haben sich zu ihrer Inspiration durch das japanische Haus mit seinen klaren Linien, seiner flexiblen Funktionalität und auf dem Grundraster der Tatami-Matten beruhenden Struktur stets bekannt. Dennoch geht es Sunah Choi nicht einfach um eine Synthese zweier formal ähnlicher Gestaltungsprinzipien. Ihre doppelte Codierung der einzelnen Raumelemente macht vielmehr die Transformationsverluste sichtbar, die in der Adaption eines gestalterischen Repertoires unter Ausblendung seiner traditionellen Bedeutung entstehen.

Der überzeitliche Anspruch des Modernismus trifft hier auf eine Form der Innenraumdekoration, die sich seit dem 15. Jahrhundert nicht wesentlich verändert hat. Dabei werden kulturelle Aneignungsprozesse ebenso sichtbar wie wechselseitige Projektionen, die die Einheit aus Form und historischer Funktion aufbrechen lassen.

Vanessa Joan Müller

Der Text von Vanessa Joan Müller wurde geschrieben für die Ausstellung
Sunah Choi
"Tokonoma"
02. Juli - 13. August 2005
Galerie Michael Neff