Exhibition:
Sunah Choi
Studiolo
RL16, Berlin

Deutsch

In der philosophischen Bildtheorie bezeichnet der Begriff des Parergonalen kontextuelle Bezugnahmen und performative Prozesse, die über den gegenständlichen oder institutionellen Rahmen sowie die Möglichkeiten bildlichen Darstellens hinausgehen. Im Sinne Derridas machen Parerga das Werk zum Werk, gleichzeitig können sie – der Doppeldeutigkeit der Vorsilbe para entsprechend – eine Art Gegenwerk sein. Auch in der aktuellen Arbeit der Bildhauerin Sunah Choi kommt dem Beiwerk eine Hauptrolle zu, wie der Autor Jan Verwoert argumentiert. Mit Blick auf Chois jüngste Einzelausstellung beobachtet er das Zusammenspiel zweier vermeintlicher Gegenpole: der wissenschaftlichen Arbeit und des Sinns für „die Beseelung der Dinge“.
- Redaktion Texte zur Kunst

Beseeltes Beiwerk
Jan Verwoert über Sunah Choi bei RL16, Berlin

Ein Begriff zur Beschreibung von Sunah Chois neueren Arbeiten wäre parafotografisch. Choi zeigt verschiedene Realitäten des Mediums Fotografie, tut dies aber, ohne eine Kamera in die Hand zu nehmen. In ihren Installationen nähert sie sich dem Medium von dessen Rändern her, durch das Arrangieren von Skulpturen und Objekten, die sinnbildlich paraphrasieren, was Fotografie ist und kann. Dabei arbeitet Choi mit Dingen, die in Porträts klassisch dem Parergon, also dem Beiwerk der Darstellung angehören. Darunter zu verstehen sind zum Beispiel Gegenstände aus dem Lebensumfeld einer Person, die auf deren Tätigkeit schließen lassen und dargestellt werden, um als „Attribute“ der Person und ihrer Praxis deren Geist zu verkörpern. In Stillleben wird diesen, derart vom Charakter einer Lebensweise beseelten Dingen die ganze Bildfläche überlassen. Choi bedient sich einer ähnlichen Logik und übersetzt sie in ihrer Praxis in die Gegenwart. Sie porträtiert das Medium Fotografie und das Leben derer, die damit arbeiten, in raumfüllenden Stillleben mit parergonalen Objekten. Dazu gehören Instrumente, die der fotografischen Berufspraxis entnommen wurden, wie Endloshintergründe und Ständer zum Trocknen analoger Abzüge, oder Skulpturen, die an Wohngegenstände oder Mobiliar aus Arbeits- und Archivräumen erinnern. Choi bricht so mit einem Denken, das das Wesen eines Mediums rein im Medium selbst (an und für sich) klären will. Stattdessen umkreist sie die Fotografie in engeren und weiteren Bahnen, um (je neu und anders) zu zeigen, welche Potenziale sie zu besitzen vermag.

Im Rahmen ihrer Ausstellung „Studiolo“ im Berliner Kunstraum RL16 rief Choi das Bild einer intimen Einbettung künstlerisch-wissenschaftlicher Praxis in ein für sie charakteristisches Umfeld auf. Der Begriff Studiolo stammt aus der Renaissance und benennt Zimmer, die dem Geist des Studiums gewidmet sind. Seine Wände waren mit Bildern behängt, die Wissensdurst bestärken, oder mit illusionistischen Intarsien ausgekleidet, die täuschend echt Schränke voll parergonaler Objekte aus der Studienpraxis – wie Bücher, Messgeräte und Musikinstrumente – nachahmten. Das Trompe-l’Œil ließ die Idee lebenslanger Versenkung in geistiges Tun greifbar erscheinen. Als Titel der Ausstellung legte der Begriff Studiolo somit nahe, diese als Meditation auf Räume wissenschaftlicher Arbeit zu verstehen. Das passte zum Ort, denn der neue Kunstraum RL16 befindet sich in einer ehemaligen Röntgenpraxis, einem Altbau mit fünf Zimmern. Choi entwickelte für jeden Raum eine Installation, die aus Arrangements skulpturaler Objekte bestand: bemalten Glasplatten, Fotogrammen in verschiedenen Formaten, aber eben auch aus Objekten, die wirkten, als seien sie der Welt der Fotografie oder des Wohnens entlehnt. So entwarf sie nach Vorbild des historischen Studiolo mögliche Szenarien eines Lebens, das sich dem Studium und der Arbeit in Wissenschaften und Künsten verschrieben hat. Die Gesamtatmosphäre strahlte Ruhe aus. Keins der Werke schrie nach Aufmerksamkeit. Choi ließ innerhalb der Arrangements Luft zwischen den Dingen und förderte so einen eher meditativen Blick, der sich zwar an Gegenständen ausrichten mag, ihnen jedoch nicht anhaftet (wie der ästhetische), sondern sich vielmehr öffnet, um zu erfassen, was zwischen ihnen und um sie herum geschieht.

Annähernd identisch in ihrem Aufbau vergegenwärtigten die Installationen im vordersten und hintersten Zimmer der ehemaligen Praxis die Idee des Studiolo als Lebensumfeld. An der Stirnwand beider Räume hatte Choi eine Skulptur aus bemaltem Holz installiert, die in Bau und Gestalt an ein größeres, kastenförmiges Hängeregal erinnerte. Den Boden bedeckte je eine entrollte breite Bahn weißen Papiers von der Art, wie sie in Fotostudios als Endloshintergrund verwendet wird. Die darauf arrangierten Gegenstände erweckten den Eindruck, als hätten die Bewohner*innen der Räume den vielfältigen Inhalt der Regale hier zur Bestandsaufnahme ausgebreitet. Im Inventar aufzuführen zum Beispiel: bemalte Holzplatten in Buchgröße sowie monochrom in leuchtenden Farben angestrichene Glasplatten, manche davon großflächig wie Fenster, andere eher im Kleinformat von Glasnegativen aus der frühen Fotografie. Das Arrangement im vorderen Raum machte diese kleinen Platten zu Hauptdarstellern. Paarweise zu Winkeln verbunden, traten sie als freistehende Figurinen auf. Wie im Fall mancher Spielzeugfiguren ging eine gewisse Handlungskraft von ihnen aus, und so nahmen sie den Charakter der Art belebten Beiwerks an, das auch Studioli und Stillleben bevölkert. Auf mich wirkte es, als habe sich im Fotoarchiv eine Kiste geöffnet und die Negative seien entkommen, um sich am Boden zu tummeln.

Form und Farbgebung der Regalskulpturen leitete Choi aus der koreanischen Tradition der Chaekgeori (Bücher und Dinge) ab. Dabei handelt es sich um lebensgroße Bilder von reich gefüllten Bücherregalen, die im 18. Jahrhundert erst am Hof, dann auch in der Volksmalerei beliebt wurden und das konfuzianische Ideal des lebenslangen Lernens vermitteln. Handel hatte die Idee des Studiolo von Italien über China nach Korea gebracht. Der Dreh, den Chaekgeori dem Studiolo-Motif historisch gaben, ist zum einen kompositorisch: Statt das Beiwerk des Studiums gewichtig zu antikisieren, bilden es Chaekgeori-Malereien in frischen Farben ab. Regalkammern sind nicht in streng gleichmäßigen, sondern geometrisch verwinkelten Formen angeordnet. Zum anderen haben die Geori (Dinge) im Regal einen anderen Charakter. Neben Büchern finden sich hier nicht so sehr Instrumente und Geräte, sondern Ziervasen mit Pflanzen oder Opferschalen mit Früchten – also Dinge von belebter Natur, die nicht selten spirituelle Bezüge aufweisen. In ihrer Arbeit übernahm Choi sowohl Farbe und Aufbau der Chaekgeori als auch den belebten Charakter der Dinge, die sich für gewöhnlich darin befinden. So mischte sie auf dem Endlospapier auch vasenartige Skulpturen, Mandarinen und organisch geometrische Papierfaltobjekte, präsentierte diese in den Arrangements jedoch nicht isoliert, sondern in Verbindung mit technischem Beiwerk, das Assoziationen weckte zur Fotografie. Die Glasplatten und Früchte umringten ein Gestell mit Gittereinlagen, ähnlich derer, die für das Trocknen von Fotoabzügen verwendet werden. Hinzu kamen aus handgezeichnetem Rechenpapier gefaltete Stäbe, die an Lichtmesser oder Farbkontrollstreifen erinnerten.

In ihrer Deutung dessen, wofür das Studiolo steht, erzeugte Choi so ein Gleichgewicht: Der Geist harter Wissenschaft und Arbeit war ebenso präsent wie ein siebter Sinn für das Kräftespiel im Herzen belebter Materie. Ähnliches ließe sich über ihr Konzept von Fotografie sagen. Choi begreift sie zugleich als Mittel wissenschaftlich-sachlicher Abbildung und als Medium alchemistischer Anverwandlung von stofflichen Prozessen. Seit Jahren arbeitet Choi mit Fotogrammen. Wohl auch deshalb, weil diese Technik – als experimentelles fotografisches Kontaktverfahren – einen im gleichen Maße sachlichen wie alchemischen Charakter besitzt. Insofern Fotogramme faktisch den belichteten Abdruck von Dingen festhalten, statt sie nur als Bild abzulichten, übertrumpfen sie das Versprechen der Fotografie, Wirklichkeit nicht nur zu repräsentieren, sondern sie indexikalisch (als reales Zeugnis) wiederzugeben. Insofern sie das Ergebnis des Experimentierens mit chemischen Vorgängen und merkwürdigen Dingen in der Dunkelkammer sind, stehen sie für alles, was an Laborarbeit Zauberei bleibt.

Im Rahmen der Ausstellung „Studiolo“ zeigte die Künstlerin in zwei Räumen Fotogramme. Einen davon gestaltete sie als minimalistische Galeriepräsentation. Hier hingen die Fotogramme hinter zwei geometrischen Skulpturen, aus Gittern geschweißten längliche Quadern, die Stahlkörben, Fuchsfallen oder den bekannten Kuben von Bob Morris ähnelten. Auf den Fotogrammen waren Texturen aus dynamisch verwobenen Linien zu erkennen, doch was sie schwarz auf weiß abbildeten, blieb verrätselt: herumwurmende Schnüre, wildes Gewächs, wuselndes Leben. Der zweite Raum, in dem Choi mit fotogrammatisch erzeugtem Material arbeitete, hatte szenischen Charakter. Hier arrangierte die Künstlerin Objekte, die in Farbe, Schnitt und Größe Arbeitsjacken, sogenannten Blaumännern, entsprachen. Aus Papier gefertigt, standen sie steif aufrecht, mit abgespreizten Armen, Brust an Brust einander gegenüber, wie im Streit. Farbe und Muster des Papiers waren per Fotogramm aufgebracht worden. Choi hatte Gittervorlagen auf fotosensitives Papier gelegt und belichtet, sodass das Raster weiß hervortrat. Die Steifheit des Papiers und die Dynamik der Szene erzeugten einen bezeichnenden Widerspruch, durch den Choi mit bildhauerischen Mitteln paraphrasierte, also sozusagen parafotografisch umschrieb, was Schnappschüsse von bewegten Ereignissen kennzeichnet: Sie frieren Momente ein, innerhalb derer sich Kräfte entladen. Im Stil eines Bühnenuntergrunds waren Bögen aus Schwarz-Weiß-Fotokopien desselben Gitters unter den Jacken ausgelegt, abstrakte Malereien an der Wand installiert. In dieser, von grafischer Abstraktion dominierten Umgebung wirkte der Streit der Blaumänner, als lägen sie wie zwei rivalisierende Avantgardisten im Clinch. Angeblich zerstritt sich Piet Mondrian mit Theo von Doesburg darüber, ob nur Raster oder auch Diagonalen in der Abstraktion für objektive Ordnung sorgen. Stolzgeschwellte kategorische Imperative prallen aufeinander. Auf meine Frage, ob es hier um „Machtkampf“ geht, entgegnete Choi lachend: „… oder um die Unfähigkeit, sich zu umarmen.“

In ihrem einschlägigen Essay Grids (1978) vollzog Rosalind Krauss nach, wie das Gittermotif – von den Zeichenmaschinen der Renaissance mit gerastertem Glas zur Ausmessung des Blickfelds bis zur Allgegenwart von Rastern in modernistischer Abstraktion – ein Ideal rational-transparenter Abbildung evoziert (im vollen Wissen um dessen Unmöglichkeit). Ähnliches versprach einst die Fotografie. Choi enthebt sie einer solchen Erwartung und handhabt Motif und Medium als alltägliches Material. Das Gitter wird zum Muster, Korb, Käfig oder zur Einlage eines scheinbaren Trockengestells für Fotoabzüge. Dabei entkleidet die Bildhauerin ihren Stoff jedoch nicht aller Symbolik, bettet letztere eher neu ein: Im Licht des Erbes der Chaekgeori muss weder das Studiolo den Mythos harter Wissenschaft bebildern, noch die Fotografie der Fetischisierung von Objektivität dienen. Und wenn sie sich auch nicht umarmen, treffen sich Motif und Medium in Chois Installationen immerhin in einer Umgebung, wo Wissenschaftsgeist und Sinn für die Beseelung der Dinge sich ihre Verwandtschaft eingestehen.

Jan Verwoert

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